Ernstfall Computerspiel – Virtuelles Handeln und soziales Spielfeld

Ernstfall Computerspiel – Virtuelles Handeln und soziales Spielfeld

Organisatoren
Claus Pias (Medienwissenschaftler, Bochum) und Christian Holtorf (Stiftung Deutsches Hygiene-Museum Dresden), in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.07.2005 - 10.07.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Florian Sprenger, Bochum/Weimar; Sebastian Vehlken, Graduiertenkolleg Mediale Historiographien, Weimar

Das erst seit wenigen Jahren wissenschaftlich diskutierte Neue Medium Computerspiel scheint mehr denn je Projektionsfläche für die Ängste, aber auch die Hoffnungen einer zunehmend ludischen Gesellschaft zu sein. Je virtueller die Welten, desto lauter werden auch die Stimmen, die nach der Bedeutung von Computerspielwelten für die Spielfelder der Gesellschaft fragen. Die interdisziplinäre Tagung Ernstfall Computerspiel vom 8. bis 10. Juli 2005 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden setzte derartigen eindimensionalen Betrachtungsweisen vielschichtige Perspektiven entgegen, die nicht zuletzt von selbst spielenden und nun ins Alter der Diskursproduktion gelangten Forschern aufgeworfen wurden. Veranstaltet unter der Leitung von Claus Pias (Medienwissenschaftler, Bochum) und Christian Holtorf (Stiftung Deutsches Hygiene-Museum Dresden), in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung, und im Kontext der noch bis zum 31. Oktober 2005 laufenden Ausstellung "Spielen", situierte die Tagung Computer-Games im größeren Zusammenhang eines kulturtechnischen Play. Abseits der gängigen Thematiken eröffnete dies einen Spielraum für Diskussionen etwa um das spielerische Abtasten von Möglichkeiten in (gesellschaftlichen) Krisensituationen durch (Computer)spiele, oder gar um ihren Formen und Techniken vielleicht inhärente soziale Phantasien und Gesellschaftstheorien.

In der Einführung wies Christian Holtorf auf die fragwürdige Trennung von Spiel und Ernst hin. Johan Huizinga und seine kulturanthropologische Spieltheorie wurde kontrastiert mit den vermeintlichen Grenzen des Spiels, etwa im politischen Agieren eines homo ludens Gerhard Schröder. Claus Pias regte an, eine spielerische Gesellschaft mit Phänomenen wie New Economy, Patchwork-Familie und verschiedensten Techniken der Simulation als eine Konjunktur der Spiele und nicht des Spiels zu lesen: Das neuartige Spielen mit dem Computer ermögliche so einerseits einen historisierenden Blick auf das, was das Spiel einmal war, und erlaube andererseits eine Diagnose des gegenwärtigen "Spiels der Spiele".

Florian Rötzers (Medienwissenschaftler/Journalist, München) Eröffnungsvortrag behandelte die Möglichkeiten, Voraussetzungen und Umsetzungen einer ludischen, existenziell vom Spiel abhängigen Gesellschaft, die es weniger mit Fragen um die Realität oder Virtualität des Spiels zu tun hat, sondern die in der Wirklichkeitsproblematik schon vorhandenen Widersprüche einkalkulieren muss. Ein wesentliches Thema dabei ist der Krieg, dessen je aktuelle Ausformung im Gegensatz zu je vergangenen Kriegen nicht als Spiel verstanden werden kann. Dies wiederum wirft einen neuen Fokus auf die (A-)Moralität von Spielen, wenn Computerspiele als Kultur und damit als Symptom einer spielenden Gesellschaft begriffen werden sollen. In einer solchen würden die "echten" Spiele zu einer Sonderkategorie.
Mit diesem Vortrag stellte sich die Leitfrage, in wie weit es neben materialistischer und humanistischer Deutung des Spiels Alternativen von Spielkonzepten und Spielkonzeptualisierungen geben könne.

Daran anschließend thematisierte Andreas Lange (Computerspielmuseum Berlin), die Entstehungsbedingungen von Computerspielen als eben jene im Tagungstitel nahegelegte Verschränkung von Ernst und Spiel. So programmierten die Entwickler der ersten (militärischen) Großcomputer der 1950er und 1960er-Jahre Spiele zur Lösung von Code-Problemen - oder nutzen im Falle des "ersten Ballerspiels" Space War (1962) am MIT ein Spiel als ultimatives Testprogramm. Erst in den 1970er-Jahren werden Computerspiele in Form von Pong oder als Heimspielkonsole Odyssey kommerzialisiert. Sie entwerfen Spielräume, die der Kommunikationswissenschaftler Mathias Mertens (Gießen), selbst engagierter Spieler, in seinem Vortrag auf die Möglichkeit hin analysierte, ein Innen von Computerspielen zu definieren. In wie weit ist der Spielraum vorgegeben oder vom Spieler definiert? Anhand von Spieleklassikern wie Pong, Breakout oder PacMan entfaltete Mertens die für Computerspiele wesentlichen Ziele des Erkundens, Beherrschens und Verhaltens im Raum. Der sich selbst verteidigende Raum des Computerspiels wurde dabei als Möglichkeit, sich analytisch (auch als Spieler) mit Spielen zu beschäftigen thematisiert, ohne dabei ihre gesellschaftlichen und sozialen Implikationen zu übersehen. Hierbei wäre allerdings der Begriff der Kulturtechnik hilfreich gewesen.

Ulrike Pilarczyk (Berlin) strich in ihrem Beitrag die Schwierigkeiten einer adäquaten pädagogischen Beurteilung von Computerspielen heraus. Als Gutachterin für die Unterhaltungssoftware-Selbstkontrolle (USK) thematisierte sie überraschend selbstkritisch kulturhistorisch und mediensozialisatorisch bedingte Wahrnehmungsprobleme des neuen Mediums bei Erwachsenen (und Gutachtern). Oft würden Computerspiele nur - wie andere Bildmedien - betrachtet, nicht aber gespielt, und somit zwar nach vertrauten, aber fehlleitenden Maßstäben kategorisiert. Sie regte eine multimediale Bewertung der virtuellen Spielwelten an, die auch die akustischen Aspekte der Stimmungserzeugung zu berücksichtigen hätte - allerdings ohne ein konkretes Beurteilungsraster präsentieren zu können.

Im Gegensatz dazu war der mehr als umstrittene Vortrag von Rolf Oerter (Psychologe, München) der negative Höhepunkt der Tagung, da hier nicht nur die Reflektionsebenen der anderen Tagungsteilnehmer verfehlt wurden, sondern auch inhaltliche Fragen offen blieben. Zwar sind pädagogische Maßnahmen, das Computerspielen von Kindern mittels an Computerspielen entworfenen Kategorien zu regulieren, durchaus sinnvoll, sie mit Begriffen wie ‚mentaler Hygiene' zu rechtfertigen, zeugt jedoch von mangelnder Aufmerksamkeit.

Claus Pias konzeptualisierte in seinem Vortrag die Spiele als den blinden Fleck einer Spieltheorie, die seit Friedrich Schiller als allgemeine Regelungstheorie überall dort aktiviert werde, wo im Staatswesen Störungen auftreten. Als eine Art Krisentheorie fungiere das Spiel so als ein Homöostat, der dynamische Gleichgewichte herstelle, zugleich aber den Blick auf die "frivolen" Spielgegenstände des Alltags verstelle. Eine Perspektive, die mit der modernen Kybernetik nachgerade umgedreht werde, indem diese Regelungsfragen stets in Bezug zu Technik betrachtet und auch alle Spiele von dieser materiellen Seite her denke. Mit dem Ergebnis, dass das schon von Schiller privilegierte Spielprinzip (play) eines politischen, sozialen oder ökonomischen Handelns heute innerhalb eines Rahmens stattfinde, der durch die konkreten Spiele (games) abgesteckt werde. Anhand dieser historischen Linien gelte es in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisensituation eine Spieltheorie zu entwerfen, die die Games zum produktiven Ausgangspunkt macht.

Fritz Böhle (Sozialökonom, Augsburg) arbeitete die spielerischen Facetten der komplexen Handlungen in modernen Arbeitsprozessen heraus, ohne dabei Spiel und Arbeit als Gegenbegriffe zu verwenden. Dies rechtfertigt sich dadurch, dass in komplexen Problembewältigungsstrategien z.B. in Fabriken oder Chemiewerken spielerische Aspekte wichtiger Bestandteil der Vermeidung von Unsicherheit sind. So wird der ‚menschliche Faktor' in einem solchen Prozess zum spielökonomischen Entscheidungsmuster.

Mit Gefährlichen Spielen befasste sich die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn (Basel), indem sie in ihrem Vortrag die Relationen von Spiel, Ausbildung und Krieg anhand der Boyscouts des 19. Jahrhunderts und den Computerkids des Kalten Kriegs erörterte. Die Planung eigentlich chaotischer Kriegssituationen in kybernetischen Modellen und Simulationen "intellektualisiere" den Krieg, wobei dem (spielerischen) Ausprobieren von Rollen, Situationen und Identitäten eine zentrale Bedeutung zukomme. Ihre provokante These: Kinder seien hier ideale Adressaten für einen Krieg-als-Spiel. Trotz auch heute ziemlich offensichtlicher Verbindungen zwischen militärischen Computerspielen wie America's Army und Recruiting-Strategien der realen US-Armee muss jedoch berücksichtigt werden, dass professionelle Software z. B. der Bundeswehr keinerlei Rücksicht auf Spielbarkeit nimmt. Das "realistische" Szenario eines Computerkriegsspiels ist somit doch recht weit entfernt von der Realität des "Kriegsspiels".

Die Frage, in wie weit und wie Computerspiele genderspezifische Verhaltensweisen herausbilden oder unterlaufen, indem die Möglichkeit gegeben wird, im Spiel verschiedenste Geschlechterrollen innerhalb einer interaktiven Spiegelung künstlicher Welten übernehmen zu können, war Thema des Vortrags von Astrid Deuber-Mankowsky (Medienwissenschaftlerin, Bochum). Die Feststellung, dass Computerspiele zunächst eine männliche Zielgruppe im Alter von 12-18 Jahren anvisierten, wurde mit verschiedenen, divergenten Möglichkeiten der semiotischen Produktion von Geschlecht kontrastiert, unter anderem dem Girls Game Movement. Im Falle des Computerspiels als einer Technologie des Selbst sind nun die Skills und Eigenschaften der Charaktere wichtiger als ihr Geschlecht, was wiederum die Frage aufwirft, ob das Geschlecht hier als eine gleichwertige Kategorie unter anderen zu verstehen ist.

Der Technikhistoriker Stefan Poser (Berlin) thematisierte in seinem Beitrag die Rolle des Risikos als Attraktor im Spiel, und fragte insbesondere nach der Bedeutung von Technik bei der Erzeugung von Spannung, etwa im Falle von Maschinen, die Menschen zu Höchstleistungen animieren (Extremsport, Achterbahnen etc.). Etwas banal wirkte allerdings die Feststellung, dass der konstatierte Boom inszenierter Risiken wohl mit der Risikoarmut des Alltags zusammenhänge. Unbeantwortet blieb auch die Frage, wo genau denn das Risiko bei Computerspielen liege - in der Darstellung von Technik, oder etwa in der Computer-Hardware?

Joachim Fischer (Soziologe, Dresden) gelang es, mit seinem Vortrag, einen runden Abschluss herzustellen, indem er von der (allerdings hart kritisierten) Historischen Anthropologie ausgehend, das Spiel als menschlichen Weltentwurf bestimmte. Jedem Lebewesen werde durch die Evolution mitgespielt und es sei somit ein Spielstein, der sich diesem Spiel nicht entziehen könne. Lediglich dem Menschen gelänge es, diesem Spiel zu entsprechen. So seien alle Spiele des Menschen Versuche, als Mitspieler und nicht mehr als Gespielter aufzutreten. Damit verlange das Phänomen Computerspiel auch keine neue Spieltheorie, wie zu Beginn der Tagung konstatiert, weil sie eine Gesetztheit in eine Setzung verwandle.

In der abschließenden Podiumsdiskussion kamen dann doch noch jene medienpädagogischen Implikationen zur Sprache, die die Tagung bis dahin zugunsten alternativer Perspektiven weitgehend (und wohltuend) ausgespart hatte. Einhellig gewarnt wurde vor einer Wirkungsdebatte, die in der Regel nicht einmal ihre eigene Wirkung reflektiere, und die noch bei jeder Medieninnovation zutage trete. Wie sich ein Ernstfall vermeiden ließe, wäre auch eine schlecht gestellte Frage, zumindest dann, wenn sie die medialen Bedingungen des Spiels und des Spielens übersähe und sich lediglich auf Medienwirkungsforschung einließe. Ulrike Pilarczyk gestand unumwunden eine gewisse "Ratlosigkeit" angesichts immer wieder thematisierter Fragen nach der Wirkung von Computerspielen ein, und empfahl ebenso wie Astrid Deuber-Mankowsky in erster Linie den Einsatz gesunden Menschenverstandes, indem durch Anschauen, Anhören und Selbstspielen eine individuelle Gefahrenabschätzung vorgenommen und mit Kindern gemeinsam über deren Computerspiele kommuniziert werde. Eva Horn wies auf den grundsätzlichen mimetischen Fehlschluss eines etwaigen Verhältnisses von Gewaltdarstellung und Gewalt hin: Blut auf dem Bildschirm ist kein Blut, sondern Information über Blut. Diese einigermaßen trivialen Handlungsempfehlungen sollten jedoch eher als Ergebnis einer gründlichen Beschäftigung mit dem Thema Computerspiel und den ihm inhärenten Komplexitäten gewertet werden. Nicht zuletzt ließe sich so den von Umberto Eco beschriebenen Positionen des Apokalyptikers und des Integrierten, des Medienverdammers und des Medienverehrers, eine kritische Handhabe entgegenstellen.
Auch wenn die Argumentationen rund um die Begriffe Spiel, Spiele und Computerspiele im Verlauf der Tagung nicht immer ganz trennscharf waren, das Computerspiel nicht immer genau fokussiert wurde, und man sich gelegentlich in je fachspezifischen Erörterungen um das Wesen des Spiels erging, muss der Veranstaltung eine hohe Brisanz und Relevanz attestiert werden. Diese schlugen sich nicht nur in einem breiten öffentlichen und medialen Interesse nieder, sondern auch in der Vielfarbigkeit und Kurzweiligkeit der Präsentationen, die ein differenziertes Licht auf Computerspiele zu werfen imstande waren.


Redaktion
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